Was macht Virtual Reality mit uns und unserer Gesellschaft? Dr. Jonathan Harth, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Witten/Herdecke (UW/H), ist überzeugt, dass man diese Frage nicht nur technischen Entwicklern überlassen darf. Mit Hilfe der neuen Virtual-Reality-Ausrüstung an der UW/H untersucht er mit Studierenden, welche Auswirkungen die digitalen Möglichkeiten auf Gesellschaft und Individuum haben könnten. „Wir haben uns der virtuellen Realität sozialwissenschaftlich genähert und genauer untersucht, was diese Möglichkeit für den Menschen bedeutet“, erklärt Dr. Jonathan Harth. „Dabei ging es uns darum herauszufinden, was diese Präsenz, also das Gefühl, wirklich dort zu sein in der anderen Welt, mit den Menschen macht und wie unterschiedlich diese auf die andere Realität reagieren. Die Perspektive der Benutzer wird in der VR-Forschung bisher leider kaum beachtet.“
Anhand der Ergebnisse entstand eine Typologie der Nutzer von Virtual Reality. Harth fasst zusammen: „Es gibt große Unterschiede bei der Reaktion auf die digitalen Welten. Je nachdem, wie selbst- oder weltzentriert, wie kontroll- oder explorationsbezogen die Menschen sind, sind sie unterschiedlich stark in der Lage, in diese Welt einzutauchen.“ Allerdings sei es wichtig, sich nicht nur mit der Wirkung von Virtual Reality auf das Individuum zu befassen, sondern auch mit ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft. „Das Thema bietet riesige Potenziale, aber auch einige Risiken“, ist der UW/H-Wissenschaftler überzeugt. „Zum Beispiel wird es sicherlich Milieus geben, in denen Menschen den Wunsch verspüren werden, ihre künstliche Welt nicht mehr zu verlassen. Besonders, da virtuelle Realität immer detaillierter und überwältigender werden wird.“
Pauschal verteufeln möchte Harth die neue Technologie nicht: „Sie ist ein weiterer Schritt in Richtung Medien- und Computergesellschaft.“ Ein großes Potenzial von Virtual Reality sieht der Wissenschaftler beispielsweise in Schulungs- und Trainingsanwendungen, in Lernkontexten und beim Thema gemeinschaftliches Arbeiten. „Man kann sich auch fragen, ob VR nicht sogar so etwas wie eine Empathie-Maschine sein kann“, so Harth und ergänzt: „Durch die Möglichkeit, vollkommen neue Perspektiven einzunehmen und beispielsweise als Mann in einen Frauenkörper oder auch in die Rolle eines Kindes in einem Slum in Nigeria schlüpfen zu können, wird es vielleicht möglich sein, einen ganz anderen Grad an Beziehung und Verständnis für andere Menschen aufzubringen.
Allerdings äußert der Wissenschaftler auch Bedenken: „Wir müssen schauen, wo wir die Grenzen von VR ziehen. Denn diese werden, sobald die technischen Möglichkeiten ausgereift sind, nur noch in unseren Köpfen existieren. Wie wollen wir beispielsweise damit umgehen, wenn Leute ihren eigenen Körper mittels fotografischer Verfahren in die VR projizieren? Dort könnten Sie dann quasi unsterblich werden und für ihre Angehörigen auch nach dem Tode zu besuchen sein. Wird das dazu führen, dass uns der reale Tod der Menschen dann egal ist? Mit solchen Fragen muss die Gesellschaft einen Umgang finden.“
Vor drei Jahren hat Hart die Virtual-Reality-Welle erfasst. Seitdem ist er entschlossen, die Entwicklungen rund um VR wissenschaftlich zu begleiten. Dank der neuen Virtual-Reality-Hardware, die an der UW/H in Forschung und Lehre eingesetzt wird, ist dies viel besser möglich. In seinem Seminar „Reflexion und Konstruktion virtueller Welten“ im kommenden Semester wird die neue Technologie dazu genutzt, herauszufinden, wie eine eigene virtuelle Welt entworfen werden kann.
Für die technische Umsetzung möchte Harth einen Kooperationspartner suchen. „Für uns wird es darum gehen, die technische und die Reflexionsperspektive zu verbinden. Wir werden zudem untersuchen, wie sich die soziale Situation verändert, wenn Personen nur virtuell, aber nicht körperlich präsent sind. Bei Volkswagen, und bald wohl auch in anderen Konzernen, wird VR schon zur kollaborativen Arbeit eingesetzt. Weitere Fragen sind für uns deshalb: Wie ändert sich gemeinschaftliches Arbeiten, wenn es nur im virtuellen Raum stattfindet? Und wie ändert es sich, wenn ich nicht mit anderen Menschen, sondern mit computergesteuerten Avataren zusammenarbeite?“
Besonders zum Thema Mensch-Maschine-Interaktion möchte der Wissenschaftler weiterforschen: „Noch sind diese künstlichen Figuren recht stupide und etwas langweilig. Das wird sich aber sicherlich durch Entwicklungen im Bereich Künstliche Intelligenz ändern und auch die VR-Technologie wird sich rasant weiterentwickeln. Wir möchten weiterhin wissenschaftlich erforschen, wie sich diese neuen Möglichkeiten auf unsere Kommunikation und Interaktion auswirken.“